Diesen Text trug ich im Rahmen einer Lesung im Juli 2019 in einem Zirkuszelt vor, das auf dem Gelände der Schule in Herrsching aufgebaut war.

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Hoch oben auf dem Berg

Die Spagetti Bolognes und das Bier haben mir sehr gutgetan. Jetzt bin ich satt, voller Zufriedenheit, umgeben von innerer, ja fast bleierner Ruhe. Lange und anstrengend war unsere Bergtour. 12 Stunden Gehzeit über riesige Gletscher in der Sommerhitze, über ausgesetzte Felsenwege, über Felswände – immer schattenlos und mit schwerem Rucksack. Ich bin wunschlos glücklich, habe keinerlei Energien mehr in mir und will jetzt nur noch den schönen Ausblick auf das Wolkenmeer genießen. Ich
sitze auf einer schlichten und harten Holzbank vor der Berghütte hoch
oben auf einem Felsplateau in 3500 m Höhe im Wallis in der Schweiz.


Tief unter uns ziehen die Wolken – langsam, sie teilen sich – verlieren sich an den Randstellen, um sich dann wieder zu verbinden. Ich will mich von der totalen Ruhe und Stimmung des Abends einfangen lassen. Meine Beine sind weit nach vorne und mein Rücken weit nach hinten gestreckt. Gemütlich ist diese Stellung nicht, aber das Strecken meiner Muskeln und Glieder tut mit gut. Mein Blick ist nach Westen gerichtet. Die tiefstehende Sonne scheint von unten zwischen den Wolken herauf – bis sich wieder eine Wolke davorschiebt. Dann ist alles in indirektes Licht gehüllt, wie ein Nebel, in dem irgendwo ein großes Lagerfeuer brennt. Die Wolkendecke ist wie Milchglas, das die schnee- und eisbedeckten Bergspitzen in diffuses Licht hüllt und rot eingefärbt.

 

Allmählich verliert das kräftige und lodernde Rot ihre Farbe und Kraft. Es kann sich gegen das immer stärker werdende Schwarz der Nacht nicht mehr verteidigen, es räumt den Platz für die Dunkelheit.

 

Im Norden ist der Polarstern zu sehen. Kein Streulicht wie unten im Ort, das die Sicht auf den Kosmos erschwert. Der Polarstern wird stärker und bald gesellen sich weitere Sterne in den Reigen der fernen Sonnen. Langsam werden die Konturen der Milchstraße sichtbar. Millionen von Sonnen glitzern und funkeln und überbieten sich im Wettbewerb ihrer Strahlungskräfte.

 

Unten ist es nun vollkommen dunkel, oben aber noch immer etwas heller im gedämpften Licht. Das Unten gibt die Herrschaft an das Oben ab – die Nacht besiegt den Tag. Die Wolken unter uns ziehen ab. In der Ferne sehe ich ein weitgezogenes Lichtermeer. Was mag das sein? Mailand bei Nacht blinkt zu uns herauf.

 

Ich spüre einen kühlen und angenehmen Luftzug. Noch immer bin ich aufgeheizt von den sportlichen Anstrengungen des Tages und der intensiven Sonneneinstrahlung. Die innere Hitze entflieht meinem Körper. Eigentlich ist es hier windstill. Aber der kühle Luftzug kommt von oben – von den steilen Eishängen hinter der Hütte. Kalte Luft fließt nach unten – umgekehrte Thermik.

 

Es herrscht absolute Stille, kein Lärm von Autos, kein Abendgesang von Vögeln, kein Rascheln von Bäumen und Büschen. Nur gedämpft und kaum wahrnehmbar höre ich die Menschen in der Berghütte. Der eigene Herzschlag – obwohl ruhig – dominiert die Stille.  

 

Eine innere und unendliche Leere macht sich breit. Ich lasse einfach nur geschehen, fühle mich wie ein Vogel, der seine Flügel weit öffnet und sich von den sanften Kräften des Windes still durch die Lüfte tragen lässt. Kein Gedanke an die Vergangenheit, kein Gedanke an die Zukunft, allein die Gegenwart ist präsent – Leere in Raum und Zeit. Ich bin vollkommen eingeschlossen in das Jetzt und Hier, verspüre eine tiefe Verbindung und Einheit mit der Natur, mit dem Universum, verschmelze wie ein Energiewesen mit dem Kosmos.


Lebe ich noch? Ich spüre nur noch reine Energie in mir – eine andere Energie wie ich sie kenne, viel kräftiger, viel tiefer, viel sinnlicher, viel universeller. Keine körperliche Energie, keine Energie für irgendwelche Aufgaben – nur Energie, die mich durch das gewaltige Universum führt und mir den Sinn des Lebens zeigen will.